"Lesen Sie Shakespeare!"

Gedanken zur Ausbildung in Psychiatrie

SYMPOSIUM

ZUM 90. GEBURTSTAG VON PROF. ROLAND KUHN

am 23. März 2002 in Münsterlingen

 

„Lesen Sie Shakespeare!“
Gedanken zur Ausbildung in Psychiatrie
A. Lingg, Rankweil / A

 

Auf dieses Thema kam ich nicht von ungefähr oder weil es sich besonders eignete unserem Jubilar Rosen zu streuen (das natürlich auch), sondern vor allem, weil es mich als Leiter einer Psychiatrischen Abteilung und für die Ausbildung von Ärzten wie auch Krankenpflegepersonal Verantwortlichen unter den Nägeln brennt. Deshalb erlaube ich mir auch das Thema sehr persönlich anzugehen.

An einem wunderschönen Frühlingstag des Jahres 1975 bewarb ich mich hier in Münsterlingen bei Prof. Kuhn um eine Ausbildungsstelle und bekam sie auf Herbst zugesagt.


Als ich mich dann noch erkundigte, welche Vorkenntnisse erwartet würden, erhielt ich zur Antwort: Die „Allgemeine Psychopathologie“ von Jaspers, Bleulers Lehrbuch - den speziellen Teil, Freuds Vorlesungen und Rorschachs „Psychodiagnostik“ – was dann auch zur spannenden Lektüre für die kommenden Monate wurde.

Wenn ich im Folgenden auf die Gegebenheiten zu meiner Zeit in Münsterlingen eingehe und das dortige Ausbildungsangebot kritisch mit unserem heutigen vergleiche, laufe ich natürlich Gefahr, meine Lehr- und Gesellenzeit zu verklären und die heutige Zeit überkritisch zu sehen.Tatsächlich muss bei diesem Vergleich manches in Rechnung gestellt werden: Psychiatrie spielte sich damals hauptsächlich in Anstalten ab, die zudem noch stark von ihren Asylpatienten geprägt waren, der Umsatz an Patienten war vergleichsweise gering, extramurale Angebote nur ansatzweise entwickelt, unser Fach hatte noch mehr mit Schwellenängsten und Vorurteilen zu kämpfen – wenngleich in Münsterlingen schon damals eine sehr aktive Ambulanz betrieben wurde und sowohl Allgemeinspitäler wie soziotherapeutische Einrichtungen konsiliariter betreut wurden. Eine interne Spezialisierung war nur ansatzweise gegeben, man übersah als einzelner Arzt noch den ganzen Bereich und war mit den Kollegen anderer Pavillons in ständigem Austausch, die zeitliche Präsenz war ungleich höher und weit weniger Zeit für die Erledigung bürokratischer Aufgaben und Sitzungen vonnöten. Mit all dem sei gesagt, dass die strukturellen Bedingungen für eine georderte Fortbildung wesentlich günstiger waren, jedenfalls wenn ich es mit den heutigen Verhältnissen in Österreich vergleiche. Die einzelne Klinik war noch viel stärker selbst für die Ausbildung ihrer Ärzte verantwortlich, was naturgemäß zu höchst unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in einzelnen Häusern führte und die Qualität der Ausbildung in hohem Maße von der Klasse und dem Engagement des Klinikleiters und seines Kaderpersonals abhängig machte. Dem gegenüber wird - zumindest in Österreich -  heute immer rigider und national einheitlich vorgeschrieben, welche Ausbildungsinhalte zur Facharztausbildung zu behandeln sind - um einen gewissen schließlich durch eine Facharztprüfung verifizierten Standart zu gewährleisten. Die Anforderungen für die Ausbildung in Psychotherapie wurden, vor allem hinsichtlich erforderlicher Stundenzahlen für Selbsterfahrung und Supervision, aus nicht schwer durchschaubaren Motiven immer höher geschraubt. Zu meinem und auch der auszubildenden Ärzte Bedauern sind eigene Schwerpunktsetzungen so viel schwieriger geworden, dies schon vom Zeitbudget her.

 

Nun endlich wieder zurück nach Münsterlingen und meinem 2. Arbeitstag, es war der 2. September 1975 und gleich schon Mittwoch-Abend beim Chef. Es wurde „Die Konsultation“ von E. ZWIRNER in Angriff genommen. Ich darf hier einschieben, dass ich vor allem während meines Studiums in Wien der Psychiatrie in verschiedenen Facetten begegnet war, also nicht unbeleckt meine Ausbildung in Angriff nahm und doch – hier tat sich etwas völlig Neues, zunächst auch Beunruhigendes auf. Hier wurde nämlich anders gelesen und gedacht wie ich bis anhin gewohnt war; wir wurden sensibilisiert auf das Hinterfragen von Begriffen, ZWIRNER und noch mehr KUHN entzauberten mir etwa die Schlagworte  „Psychosomatik“ oder „Ganzheitlichkeit“. Wie meine Notizen ausweisen, wurde schon in dieser ersten Stunde aufgezeigt, wie entscheidend es ist,  Zusammen-gehörendes von Zusammengeratenem zu unterscheiden, wobei ich als Altgrieche immerhin erfreut war mit den Begriffen to pan und to olon etwas anfangen zu können. Ferner war in diesem Kurs etwa auch noch davon die Rede, dass Katatonien mit Thyroxin behandelt werden können, dass HUSSERLs „Logische Untersuchungen“ helfen könnten vom Psychologismus loszukommen, doch was hatte  RILKEs Bettlerin auf der Pont  du Carrousel  an einem Abend über die Konsultation zu suchen? Als Resümee des Abends notierte ich mir später in meinen Mitschriften KANTs Zitat aus dem Jahre 1765: „Der Student soll nicht Gedanken, sondern Denken lernen...“

 

Wie alle, die damals  hier gearbeitet und gelernt haben, bestätigen können, ging es die nächsten Jahre in diesem Stil weiter und wies die Ausbildung in Münsterlingen eine besondere Qualität auf, die zwar nicht jedem behagte und manche auch resignieren ließ, vor allem auch verstörte, weil sie nicht unbedingt im Zeitgeist lag, der eher darauf drängte sich unter die Fahne der biologischen Psychiatrie, einer analytischen Vereinigung oder der Sozialpsychiatrie zu stellen. Genau diesen sicheren, in Wahrheit natürlich scheinsicheren Ort einzurichten ließ die phänomenologische Ausrichtung der hiesigen Ausbildung nicht zu, man wurde immer neuen Irritationen, sprich Anschauungen ausgesetzt. Entscheidend dabei war, dass der Chef selbst immer präsent war, dies bei der Patientenvorstellung jeden Montag nachmittag, der Fortbildung am Dienstag sowie den alternierenden Mittwoch-Abenden bei ihm bzw. der Vorlesung in Zürich. Das bedeutete vor allem auch, dass die Ausbildung ernst genommen wurde, die nötige Strenge aufwies und für Gerede kein Platz war.

Nebenbei bemerkt hat diese „Strenge“ natürlich auch oppositionelle Kräfte auf den Plan gerufen und sei heute verraten, dass wir uns auch zu alternativen Veranstaltungen trafen, uns Texte wie etwa BINSWANGERs „Der Mensch in der Psychiatrie“ einmal ohne Chef vornahmen und dazu (zum Unterschied zum Mittwoch-Abend) Rotwein tranken und Zigarren rauchten.

 

Ich habe, geschätzte Damen und Herren, seither und bis heute Texte aus dieser Zeit mit Randnotizen oder Protokollen immer wieder zuhanden genommen und auch für die Aus- und Fortbildung in unserem Krankenhaus benützt, dabei meinen Assistenten vor allem  immer vor Augen geführt, welche Schätze auch in älterer Literatur oft ungehoben bleiben bzw. in der heute schnelllebigen und statistikgläubigen Zeit nicht mehr ernst genommen werden. Es gäbe dazu zahlreiche Beispiele anzuführen, ich denke in einer willkürlichen Auswahl etwa an

 

JAKOB WYRSCHs „Psyche und Pharmakon“,

W. BLANKENBURGs „Grundlagenprobleme der Psychopathologie“

und „Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit“,

H. BINDERs „Der psychopathologische Begriff der Neurose“ und „Neuere Aspekte des Psychopathiebegriffs“

K. BIRNBAUMs „Der Aufbau der Psychose“,

K. GOLDSTEINs  „Abnorme Reaktionen hirnorganisch Geschädigter“,

S. FREUDs Trauer und Melancholie,

L. BINSWANGERs Lebensfunktionen und innere Lebensgeschichte...

Es gäbe noch viel zu sagen, etwa auch über die Seminare in Traumdeutung oder die Rorschach-Kurse. Unabdingbar ist gewiss auch das ständige Verknüpfen theoretischer Ausbildung mit der praktischen Tätigkeit, klinischer wie ambulanter, Bezugsetzung jedoch auch mit dem Leben, der Lebenswelt schlechthin. Dass nicht nur literarische sondern jedwede Kunst dem Psychiater nicht nur Labsal sondern auch eine Quelle fürs Verstehen und Behandeln psychischer Alterationen werden kann, sei betont jedoch hier nicht weiter ausgeführt. 

Ausbildung kann auch spannend sein, wie beispielsweise, als der Chef uns

einmal im Rorschachkurs 2 am selben Tag von einem  aus Frankreich angereisten Patienten erhobene Protokolle vorlegte, das eine um 10.40 Uhr, das andere um 15.30 Uhr aufgenommen, die sich  wesentlich unterschieden! Dann die Frage an uns, wie ist das möglich, dass etwa am späten Vormittag zu Tafel II noch „Ein Unfall" oder „Der Tod“ oder „Die Auslage einer Metzgerei“ oder „Ein entzwei geschnittenes Tier“ – und  am Nachmittag zur selben Tafel als einzige Antwort „Ein Streit zwischen zwei Clowns“ gegeben wurde? Große Ratlosigkeit, schließlich die Auflösung: Der u. a. schwer Tranquilizer abhängige Mann hatte den 1. Test in Abstinenz, den 2. nach Einnahme seiner gewohnten Tranquilizerration, eines Mittagessens  und einem 2-stündigen Schlaf im Gasthof Hecht abgelegt.

 

Die Sorge unseres Chefs, das „rechnende Denken“ (wie es HEIDEGGER in anderem Zusammenhang nannte) werde auch die Psychiatrie einholen, prägte viele Fortbildungen und Kurse. So wurde denn auch in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder hinterfragt, wann auf induktivem Wege gewonnene Ergebnisse und wann durch individualisierenden Zugang dem Kranken Nutzen erwächst  bzw. wie sich beide idealerweise ergänzen. Nun vereinnahmt  die evidence-based medicine (EBM), die einzig aus randomisierten, kontrollierten Studien gewonnene Ergebnisse als Kriterium für Behandlungsentscheidungen akzeptiert, auch unser Fach zunehmend, unterminiert damit die Rolle des Arztes als Therapeut und vernachlässigt psychologische wie soziale Aspekte der Medizin. Subjektivität, so BORNHOLDT und DUBBEN in ihrem empfehlenswerten Büchlein „Der Schein der Weisen“, Subjektivität möchte man aus den exakten Wissenschaften heraushalten. Für Kasuistiken, also biografisch-individualisierendes Arbeiten, war über Jahre in den bestimmenden Zirkeln und Journalen  kaum mehr Platz, beklagen etwa auch D. D. R. WILLIAMS und Jane GARNER im British Journal of  Psychiatry Nr. 180 (2002). Gleichzeitig stellen sie jedoch eine Trendwende fest: den Ergebnissen von Studien begegne man   zwischenzeitlich mit mehr Skepsis, da sie oft verschiedenste Mängel aufweisen, vor allem häufig auf einer Auslese von Testpersonen beruhen, die keineswegs den praxisrelevanten Fragestellungen entsprechen, Drop-outs ganz einfach unter den Tisch kehren und anschließend nicht selten auch noch marginale statistische Unterschiede zum Anlass für  Therapieempfehlungen nehmen.  Kritisch angewendete EBM bleibe wertvoll, bedürfe jedoch der Ergänzung um sog. qualitative Forschung, das Eingehen auf den Einzelnen, seine Biografie und sein soziales Umfeld, dies nicht nur in der Behandlungspraxis sondern auch der Ausbildung in Psychiatrie. Sie erinnern auch daran, dass wesentliche Fortschritte in der Medizin der Beobachtung bzw. erfolgreichen Behandlung einzelner Patienten zu verdanken sind. Schlägt das Pendel zurück?

 

Geschätzte Damen und Herren, Ausbildung in Psychiatrie – sei es für Allgemein- oder Spezialärzte aber auch das Pflegepersonal – verdient auch im heute hektisch gewordenen Klinikalltag den erforderlichen Stellenwert und Raum, sollte dringend ausreichend mit der praktischen Berufsausübung verknüpft sein und sich nicht nur in der Delegation an jeweilige Experten erschöpfen, hat sich dem Gegenstand unserer Sorge angemessen vielfältiger Ansatzpunkte zu bedienen, bleibt damit auch spannend, im gelungen Falle - eine Lebensschule.

 

Gewiss musste ich vieles schuldig bleiben – nicht jedoch die Erklärung meines Titels:

Als Roland Kuhn selbst, vor Antritt seiner Ausbildung zum Psychiater in der Waldau, Prof. Kläsi die Frage stellte wie er sich vorbereiten könne, bekam er den Rat: „Lesen Sie Shakespeare!“

 

Angeführte Literatur

 

Beck-Bornholdt, H.P. und Dubben, H.H.: Der Schein der Weisen. Hoffmann &Kampe. Hamburg 2001

Binder, H.: Der psychopathologische Begriff der Neurose. Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat.89 (1962)

Binder, H.: Neuere Aspekte des Psychopathieproblems. Sonderdruck aus „Probleme und Ziele der             vormundschaftlichen Fürsorge. Polygraphischer Verlag AG Zürich 1963

Binswanger, L.: Der Mensch in der Psychiatrie.Neske Pfullingen 1957

Binswanger, L.: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. I und II. Francke Bern 1947

Birnbaum K.: Der Aufbau der Psychose. Berlin 1923

Bleuler E.: Lehrbuch der Psychiatrie. Springer Berlin Heidelberg New York 1972

Freud S.: Trauer und Melancholie. In: Psychologie des Unbewussten. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1975

Goldstein, K.: Der Ausbau des Organismus. Nijkoff. Den Haag: 1934

Heidegger M.: Gelassenheit. Neske. Pfullingen 1985 (1959)

Jaspers, K.: Kant. Piper. München 1975

Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie (1913) Springer.Berlin Heidelberg New York 1973

Rorschach H.: Psychodiagnostik. Hans Huber Bern 1941

Williams, D. D. R. and  Garner, J.: The case against the`evidence`: a different perspective on        evidence-based medicine. British Journal of Psychiatry (2002), 180, 8-12

Wyrsch J.: Psyche und Pharmakon. Dokumenta Geigy zum ersten internationalen Kongress für            Neuropsychopharmakologie in Rom vom 8. bis 13. 12. 1958

Zwirner, E.: Die Konsultation. Zur Theorie der psychophysischen Korrelationen und         „psychosomatischen Ganzheit“. In Schweiz. Med. WS, Beiheft zu Nr.38, 1953

 

Primarius Dr. A. Lingg
Landes- Krankenhaus
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Dr. A. Lingg

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