"Aschermittwoch"

Clara Müller 1861 - 1905

Aschermittwoch
 
Nun fällt der tollen Narrenwelt
das bunte Kleid in Lumpen, -
und klirrend auf den Estrich schellt
der Freude voller Humpen.
Lautkrachend springt ins Schloß das Tor,
kein Lichtschein mehr am Fenster -
ein grauer Morgen kriecht empor,
der Morgen der Gespenster.
 
Da ist im tiefen Straßenstaub
ein stolzes Weib gestanden -
von ihrem Odem rauscht das Laub,
des Meeres Wogen branden.
Sie reckt sich in die Frühlingspracht
mit herrischer Gebärde:
mein ist, was blüht und weint und lacht -
mein ist die ganze Erde!
 
Was bimmelt ihr vom Kirchenturm
und predigt Reu und Buße?
Ihr seid das Sandkorn vor dem Sturm,
der Staub mir unterm Fuße.
Was schiert mich eurer Sünde Scham
und eurer Hölle Flammen?
Ich blas den ganzen Maskenkram
mit einem Hauch zusammen.
 
Mir gilt die Dirne unterm Tor,
das Hündlein in der Gossen
mehr als der schönste Damenflor
in euren Staatskarossen.
Und Blumen und Konfettischlacht?
Wie jäh verstummt die Harfe,
versprüht der Witz, verblaßt die Pracht,
löst meine Hand die Larve.
 
Mir gilt des Bettlers hohle Hand
und gramzerfressne Miene
mehr als der Fürstenhöfe Tand
und blutige Hermeline. -
Und tobt im Ost der Schwertertanz,
und saust das Blei, das rasche -
auf aller Kronen Faschingsglanz
streu ich die Handvoll Asche!
 
Ob Kirchen- oder Festungsturm,
sie wanken beid auf Erden
und werden einst vom Wirbelsturm
zu Staub zerblasen werden.
Und reißt der letzten Narretei
der bunte Rock in Fetzen,
dann soll die Menschheit, nackt und frei,
sich an die Tafel setzen.

                                              Clara Müller (1861 - 1905)

 

 

 

 

Links zum Thema:

http://www.claramueller.de/publist.html

 

Weitere Informationen:

Clara Müller (Müller-Jahnke)

 

 Geboren am 5. 2. 1861 in Lenzen bei Belgard/Hinterpommern,
gestorben am 4. 11. 1905 in Berlin-Wilhelmshagen.
 
Ihr Vater war der demokratisch gesinnte Pfarrer Wilhelm Müller, von dem sie bis zu seinem Tod 1873 Privatunterricht erhielt. Sie besuchte ein Pensionat und dann eine Handelschule in Berlin, wo sie 1877 das Examen machte. Wegen eines körperlichen Leidens lebte sie daraufhin wieder einige Jahre bei der Mutter in Belgard. Sie verdiente zunächst durch Privatstunden Geld, bis sie 1884 nach Kolberg zog und dort als Volkschullehrerin arbeitete. 1889 fand sie eine Anstellung in der Redaktion der »Zeitung für Pommern«. Sie arbeitete bei verschiedenen Zeitschriften mit, z.B. bei den sozialdemokratischen Zeitschriften »Neue Welt« und »Gleichheit«. 1902 heiratete sie den Orientmaler Oskar Jahnke. Nach einer Erbschaft konnte sie sich ganz ihrer literarischen Tätigkeit widmen. Clara Müller starb 1905 an einer Influenza.
Clara Müller war vorwiegend Lyrikerin, sie galt ihrer Zeit als führende sozialistische Dichterin. In ihrem Roman »Ich bekenne« (1904) verwertete sie ihre Erfahrungen als Kontoristin in einer Berliner Fabrik, Lehrerin, sozialdemokratische Journalistin sowie als ledige Mutter.

 


 

Clara Müller

Clara Müller