"Das Ohr ist der Weg zum Herzen ..."

Wir sehen mit Lichtgeschwindigkeit (300.000 km/sec) und hören mit Schallgeschwindigkeit (330 m/sec!). In einer schnelllebigen Welt hat es das Ohr schwer, beachtet zu werden.

Das Ohr ist der Weg zum Herzen ...

... sagt ein französisches Sprichwort. Dass sich ein Jahresbericht der
Telefonseelsorge mit dem Hören befasst, liegt auf der Hand, setzen wir
uns doch mit unseren Klienten ­ von den Internet - Usern abgesehen ­
doch ausschließlich auf diesem Weg in Verbindung und auseinander.
So ­ einige Gedanken zum Hören...

Hören setzt ein intaktes Sinnesorgan voraus: Die im Ohr angekommenen Schallwellen werden in Signale umgewandelt, die über bestimmte Nervenbahnen ins Hörzentrum gelangen und dort ausgewertet und interpretiert werden; zahlreiche komplexere Verschaltungen leiten dann auch über zu anderen Zentren, etwa jenem für das Sprachverständnis, für die Orientierung, für emotionale Begleitreaktionen. Das Gehör ist unser aktivstes Sinnesorgan:

Während die Augen geschlossen werden können oder im Schlaf ausruhen, bleiben die Ohren stets offen und aufnahmebereit, sichern so einen verlässlichen Kontakt zur Um- und Mitwelt.

Für die Wichtigkeit des Gehörs spricht auch, dass es in der embryonalen Entwicklung früh angelegt und schon vorgeburtlich aktiv ist und damit auch erste Bezüge zur Welt außerhalb der Mutter herstellt...

Die Bedeutung des Hörens wird heutzutage, in einer Zeit der Bilder- und Textflut, unterschätzt, seine Schlüssefunktion für die zwischenmenschliche Kommunikation, Sicherheit und emotionales Berührtwerden häufig übersehen. Nicht selten kommt einer erst zu sich, wenn nach fahrlässigem Umgang mit Lärm, nach einem Unfall oder einer Krankheit Hörschäden zurückbleiben.

HNO-Ärzte rechnen mit einer enormen Zunahme von Schwerhörigen in den nächsten Jahrzehnten, wenn nämlich die beim jüngeren Menschen zunächst noch kompensierten Ausfälle durch zusätzliche Altersveränderungen zum Durchbruch kommen. Waren bei unseren Großvätern noch hauptsächlich kriegsbedingte Explosionstraumata und bei unseren Vätern ein ungeschützter Aufenthalt im Lärm von Industriebetrieben die wichtigsten Ursachen für Hörschäden, wird es bei unseren Kindern der Beat bei Popkonzerten oder in Diskotheken sein, der sie später schwerhörig werden lässt...

Die Antwort auf einen akustischen Reiz erfolgt reflexartig oder überlegt: Wir hören hin oder hören weg, überhören etwas oder verhören uns, hören an oder hören zu, hören schließlich auf... Zweifellos ist die Welt für viele von uns lauter geworden und sind wir allzu oft ­ gefragt oder ungefragt ­ von einem Geräuschteppich umgeben, der Geräuschen und Rufen aus der Natur den Zugang verwehren und uns stumpf werden lassen kann. Statt dessen werden wir heute durch “Sounddesign³ verführt: So versuchen Snackhersteller mit sogenannten Krustimetern oder Testessern den optimalen Sound für ihre Kekse oder Chips zu finden; wurde schon eine Bierflasche mit ungewöhnlich geformtem Hals entwickelt, der den Gerstensaft rhythmisch ins Glas schwappen lässt, unterhalten Autohersteller aufwändige Soundlabors, um ihren schweren Limousinen das samtige Brummen, ihren Sportwagen einen fetzigen “roar³ oder dem Türschluss den sattschmatzenden Klang zu geben...

Tiefen Stimmen wird Souveränität, Frauenstimmen mit erhöhtem Flüsteranteil eine erotische Wirkung zugesprochen... PCs können bald so programmiert werden, dass sie uns Internetseiten oder Aktienkurse traurig oder freudig, fröhlich oder ärgerlich, jedenfalls abwechslungsreich vorlesen ­ es gäbe noch 1000 Beweise, wie direkt unser Hören mit Kopf und Herz verbunden ist!

Zuhören ist ein Geschenk und mitunter auch eine Kunst: Zuhören als Bemühen, sich in das Gegenüber einzufühlen, im Gespräch mitzugehen, ihm oder ihr Aufmerksamkeit und Interesse entgegenzubringen ­ letztlich Anteil zu nehmen. Das soll heutzutage, wird immer wieder gesagt, in Partnerschaften, Betrieben und Alltagskontakten zu kurz kommen. Es ist kein Luxus, einmal darüber nachzudenken; es ist nicht ungeschickt, mal statt Blumen oder einer CD dem Freund, der Ehefrau einen Abend zu schenken und dann erst zu merken, in welche Schieflage das “Zeitmanagement³ im wohl wichtigsten Bereich des Lebens geraten ist...

Es spricht für sich, dass dazu heute schon Seminare angeboten werden ­von  “Zuhören lernen³ bis “Streiten lernen³. In Deutschland ist auch schon eine “Stiftung Zuhören³ gegründet worden ­ unsere Zeit scheint trotz aller großartigen Möglichkeiten und Freiheiten genau an Zuhören Not zu leiden... So wie die vielen AnruferInnen bei der Telefonseelsorge, die ihre Bedürfnisse ganz unterschiedlich artikulieren: Sie wollen sich etwas von der Seele reden oder ernst genommen, beraten werden oder aus einer Sackgasse herauskommen; allzu häufig müssen sie auch Zorn, Aggressivität oder Langeweile in Frustanrufen abladen.

Damit sind wir wieder beim Ohr, beim offenen Ohr, hier bei der Telefonseelsorge, deren MitarbeiterInnen darin geschult und darauf bedacht sind, hin- und zuzuhören ­ wie oft im Jahr 2003, ist nachstehender Statistik zu entnehmen.

 

 

„Das dritte Ohr“, Joachim-Ernst Berendt, Rowohlt Taschenbuch 1988, ISBN: 3499184141

„Das dritte Ohr“, Joachim-Ernst Berendt, Rowohlt Taschenbuch 1988, ISBN: 3499184141

Jahresbericht

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