„Psychische Störungen – anders gesehen.“

Vortrag 09.10.2003 in FL-Schaan

Nach dem Film über Dorothea Buck, ihrem Schicksal und den an ihr begangenen Verbrechen fällt es nicht leicht als Psychiater, und dann auch noch Anstaltspsychiater hier zu stehen.

Doch halt: Was sich noch Gedanken machen ? Was sich noch verantwortlich fühlen ? Für etwas, was vor langer Zeit und in einem ganz anderen politischen Regime passiert ist ?

Wozu sich mit diesem Erbe, mit diesem wahrlich schweren Rucksack der alten Psychiatrie belasten ?

Nun wissen wir, dass wir vor allem aus der Geschichte lernen und nicht gut beraten wären, etwa zu sagen: Psychiatrie hat sich doch modernisiert, geöffnet und humanisiert, sie ist ein Teilgebiet der Medizin. Die Ängste vor ihr sind im Schwinden begriffen, verschrecken wir doch nicht die Leute mit diesen alten Geschichten.

Nein, sei so einfach dürfen wir es uns nicht machen, bei allem was wir an erfreulichen Fortschritten in den letzten Jahrzehnten berichten und auch erfahren dürfen. Die Psychiatrie wird bestimmte Besonderheiten behalten:

So vor allem, dass sie wie kein anderes medizinisches Teilgebiet mit gesellschaftlichen Prozessen, dem Zeitgeist verbunden ist. Auch anfälliger bleibt für Ideologien, welche sie dann in eine bestimmte Richtung und Einseitigkeit reiten.

 

Und das lehrt uns die Psychiatriegeschichte:

Immer wenn sich einseitige Tendenzen in unserem Fach durchsetzten, wurde es gefährlich. Wurde man dem in Schwierigkeiten geratenen Menschen nicht mehr gerecht, ja wurde er auch immer wieder Opfer.

Einseitig meint etwa moralisierende Vorstellungen, nach denen psychisch Kranke mit ihren Leiden für etwas bestraft werden.

Einseitigkeit meint etwa die fatalistische Ansicht, dass wir nur Spielball unserer Gene sind, also angeborenen Tendenzen und Schwächen nicht auskommen.

Einseitigkeit bedeutet aber auch den Menschen nur als Produkt seiner Umwelt, vor allem Erziehung oder frühkindlichen Erlebens zu sehen.

Einseitigkeit ist auch die Bedeutung biochemischer Prozesse, entspricht vor allem unserem Transmitter-Haushalt im Gehirn für die primär entscheidende Ebene unserer Ängste, Verstimmungen oder queren Gedanken anzusehen.

Nun an all dem räumt einer ein, ist doch das eine oder andere daran und wichtig zu wissen und in Konzepte des Helfens oder Heilens anzurechnen.

Ja, es gibt Menschen, die aufgrund eines schlechten Lebensstils in Sackgassen oder Verzweiflung hineingeraten.

Ja, es gibt Menschen, die aufgrund widriger Umstände schlechte Chancen für ein gesundes Aufwachsen bekommen.

Ja, es gibt Menschen, die aufgrund traumatisierender Erlebnisse schreckliche Hypotheken für ihr ganzes Leben mitbekommen.

Ja, da und dort ist eine angeborene genetische Anfälligkeit nicht zu leugnen.

Ja, nicht selten bedingen funktionelle Störungen unseres Hirnstoffwechsels oder körperlicher Erkrankungen seelisches Leiden oder verändertes Verhalten.....

Und genau das wäre es: Im Einzelfall nachzuschauen, welche dieser Seiten des Menschseins tangiert ist, vor allem auch wo ich Anhaltspunkte habe, auf Veränderbarkeit, Hilfestellung oder Heilung.

Nun wäre die Frage zu stellen, ob er in der Psychiatrie, in der Medizin wirklich gut beheimatet ist, wie sie es seit Pinell, dem großen Arzt der französischen Revolution ja ist ?

Ob denn ein Profi, sprich Psychiater oder eine Psychiatrieschwester oder ein Sozialarbeiter oder Therapeut all diese Facetten übersehen und auch richtig angehen kann ?

Nun denke ich, dass sich gerade diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten sehr viel zum Guten gewendet hat. Die Psychiatrie nämlich, multiprofessionell geworden ist und im Idealfall diese verschiedenen Bereiche des biologischen, psychologischen und sozialen aber auch spirituellen integriert, indem selbstverständlich nicht einer all das wissen und können kann, sondern die verschiedenen Berufe gut zusammen arbeiten, jeweils im Wissen um ihre Stärken und Grenzen und auch in Akzeptanz der jeweiligen Verantwortung.

Wenngleich das Pendel in den letzten Jahren wieder sehr stark in Richtung biologischer Sichtweisen ausschlägt, dies weil tatsächlich auf dem Gebiet der Forschung aber auch der Entwicklung neuartiger Psychopharmaka tatsächlich Fortschritte passiert sind aber natürlich auch, weil dort das große Geld sitzt.

Wenn also das Pendel für manchen zu sehr in diese Richtung ausgeschlagen hat, hat sich eine – um ein Schlagwort zu brauchen – ganzheitliche oder Lebenswelt orientierte Psychiatrie doch vor allem auch durchgesetzt, weil wir die Kranken nun schwerpunktmäßig in der Gemeinde und nicht mehr in großen Anstalten betreuen.

Was ich mit Gemeindepsychiatrie meine, definiert sich, wenn ich immer noch am Besten nach einem Arzt F. Authenried 1806 in Tübingen, der anlässlich der Beratung der Familie des erkrankten Dichters Hölderlins sinngemäß sagte: Man darf psychisch Kranke nicht konzentrieren, sondern man muss sie möglichst gleichmäßig über die gesamte Gesellschaft verteilen, damit die Last, die sie bedeuten, hinreichend viele Schultern findet und tragbar wird, wodurch sie auch ihre positiven Beiträge in die Gesellschaft einbringen können.

Sie sehen, hier ist schon beides angesprochen, die Last die eine psychische Erkrankung, sowohl für den Betroffenen als auch sein Umfeld bedeuten kann, aber auch die Chance, die wir sogenannt Gesunden in der Auseinandersetzung mit dem Andersein bekommen.

 

Es wäre interessant, dieser letzten Spur nachzugehen, also der „kranken Gesundheit“ bzw. „gesunden Krankheit“, man läuft hier Gefahr, rasch missverstanden zu werden, doch knüpfe ich hier wieder bei unserem Film an oder ich zitiere noch besser André Gide, der in einem seiner Gedichte die ursprünglichen Gegensätze für Gesundheit und Krankheit auflöst, in dem er beiden überraschende Aspekte verleiht:

Ich glaube, dass Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können.

Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.

Vielleicht, erschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten.

Ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere,

oder führt uns davon weg, sodass wir uns nicht mehr darum kümmern.

Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgend einer Seite hin ein bisschen beschränkt gewesen wäre – wie solche, die nie gereist sind.

Um es klar zu sagen: Ich wünsche keinem, keiner, auch keiner Familie, auch mir selbst nicht, eine psychotische Erkrankung, nur um darum Sinn und Tiefgang zu finden...... doch wenn unsere Welt kein Paradies ist, es psychotisches Erleben und dies auch auf dem Boden einer schicksalhaft verlaufenden Erkrankung gibt und wohl noch lange geben wird, sind wir gehalten, auch diesen Teil des Menschseins in unsere Erfahrungswelt zu integrieren.

 

Sie sehen, ich bin von der Psychiatrie und ihrer Geschichte über das heutige Angebot multiprofessioneller Hilfe nun endlich auch auf Angehörige und Betroffene gekommen.

Und hier sehe ich erneut einen positiven Aufbruch, in dem ich auf die emanzipatorische Bewegung der Angehörigen-Vereine und betroffenen Vereine verweise.

Sicher waren mansche Psychiater schon früher Patienten zugewandt und offen für die Nöte Angehöriger. Doch als kräftige oder ehrlicher gesagt, kräftiger werdende Bewegung ist dieser Trialog neu.

Betroffene und Angehörige wollen und müssen gehört werden, ihre Nöte und Bedürfnisse in Planungen und Adaptierung von Angeboten eingehen. Dies ist schwierig, stößt auf starre Organisationsstrukturen, mitunter auch gekränkte Helfer. Wir stehen diesbezüglich und in vielem noch am Anfang, alle Seiten müssen lernen und vor allem bereits ein, das Wissen und die Erfahrung des jeweils anderen zu respektieren, letztlich um einen gemeinsamen Nenner bemüht sein.

Solcher Austausch findet zwischenzeitlich auf verschiedenen Ebenen statt, ist zum Teil schon institutionalisiert (wie auch bei Ihnen in Liechtenstein im Trialog), seit kurzem bei uns in Vorarlberg auch im Psychiatriebeirat, mit Vertretung von HPE und Omnibus.

 

Warum dies so wichtig ist ?

Frägt ein Zweifler, ob denn die Psychiater, Therapeuten, Gesundheits- und Krankenpfleger usw. nicht analog anderer medizinischer Fächer Bescheid wissen müssten, wie zu diagnostizieren, behandeln und welche Art Dienstleistungen anzubieten wären.

Dazu meine Gegenfrage: Würde es nicht manchen medizinischen Richtungen auch gut tun und erleben sie tatsächlich im Kleinen auch solche „Revolutiönchen“, wie etwa die Frauenheilkunde, gut tun eben, dass die Ängste, Sorgen und Bedürfnisse Betroffenen stärker in Rechnung gestellt werden.

Für die Psychiatrie sei – gerade noch einmal im Hinblick auf den vorher konsumierten eindrücklichen Film – gilt, dass sie nicht genug.......

 

 

„Trainings für Eltern, Kinder und Jugendliche.“, Die Erinnerung an die Katastrophe, und wie Kinder lernen, damit zu leben.HUBER, BERN 1999, ISBN: 3-456-83219-2

„Trainings für Eltern, Kinder und Jugendliche.“, Die Erinnerung an die Katastrophe, und wie Kinder lernen, damit zu leben.HUBER, BERN 1999, ISBN: 3-456-83219-2