„20 Jahre Telefonseelsorge“

In unserer in vielem so entwickelten und bequem gewordenen Welt ist seelisches Leid oder persönliche Not keineswegs verschwunden, im Gegenteil ... Dr. Lingg


Ansprache

20 Jahre Telefonseelsorge Vorarlberg

 

am 9. 11. 2000
A. Lingg, Rankweil

 

 Geschätzte Damen u. Herren,

 

als derzeitiger Obmann und zur Festansprache ausersehen, darf ich Sie zunächst ganz herzlich begrüßen und mit einer Vorbemerkung beginnen:

Wir haben lange geschwankt, ob diese Feier öffentlich, d. h. mit Ehrengästen, Einladung befreundeter Institutionen etc. oder aber als interne Feier ablaufen solle. Haben uns für letzteres entschieden, weil doch Bedenken hinsichtlich Erhalt der Anonymität unserer MitarbeiterInnen zurecht bestanden und - wie in der Chirurgie das primum nil nocere, d. h. zuallererst nichts verderben, auch unser Vorsatz sein musste.

Wir sind eben doch ein besonderer Verein und müssen deshalb darauf verzichten, wie anlässlich solcher Feiern üblich, nach außen eine Leistungsschau zu geben, uns von Politik und Partnern unsere Daseinsberechtigung bestätigen, uns vor allem auch wertschätzen zu lassen!

Nachdem dies - zumindest hier und heute - ausfällt, darf ich gerade diesen Teil übernehmen und in meinem Referat zu entwickeln versuchen.

 

Wir alle hören oder lesen immer wieder bzw. stellen auch selbst fest, dass in unserer in vielem so entwickelten und bequem gewordenen Welt seelisches Leid oder persönliche Not keineswegs verschwunden sind, im Gegenteil manche seelischen Störungen epidemieartig auftreten - ich denke hier an Ess-, Angst/Panikstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen. Auch sind Vernachlässigung, Lieblosigkeit und Missbrauch zwar in eher Thema, aber ganz offensichtlich auch nicht seltener geworden, wurde die Depression von der WHO zur „Krankheit des Jahrhunderts“, erklärt - letzteres übrigens aufgrund seriöser Erhebungen über deren Häufigkeit in vielen Ländern...

Zögernd aber doch wurde diesen Entwicklungen in den letzten Jahrezehnten etwas entgegengesetzt, wurden gerade in unserem Land eine Vielzahl von Hilfsangeboten entwickelt und auch finanziert, sodass sich die entsprechende Ratgeberseite unserer Tageszeitung schon in schwer lesbaren Kleindruck retten musste. Auch die stationären und ambulanten Hilfsangebote wurden soweit ausgebaut, dass wir, zumindest was Quantitäten betrifft, bei Vergleichen im Spitzenfeld, und das nicht nur national, liegen.

Jene Frauen u. Männer die vor über 20 Jahren ihre Finger am Puls der Zeit hatten, sich zwar an ausländischen Vorgaben orientieren konnten und doch ein für unser Land eigenes Angebot der Telefonseelsorge entwickelt haben, waren - wie man heute sagen kann - sehr weitsichtig: Haben nämlich einerseits erkannt, dass es einer niederschwelligen Anruf- und Auskunftsstelle bedarf - Anruf hier gemeint als Notruf, Hilferuf – also eine hot-line -  und andererseits in einer Gesellschaft, die der Individualisierung großen Stellenwert gibt, man könnte negativ formuliert auch sagen, viele Menschen in Einsamkeit treibt, auch eine warm-line anbieten muss, die über den modernen Chat, also Plauderei hinaus, Menschen das Gefühl des noch Eingebundenseins vermittelt.

Unsere Pioniere haben auch frühzeitig erkannt, dass es mit zum schwierigsten gehört, fremden Menschen in Not oder Verzweiflung am Telefon beizustehen und richtig zu raten, hier also eine entsprechende Ausbildung, Fortbildung und Supervision unabdingbar sind und auch der Begleitung der MitarbeiterInnen entsprechendes Augenmerk zu schenken ist.

 

Das wichtigste und erfreuliche jedoch war und ist, dass sich bislang genug geeignete Frauen und Männer für diesen ehrenamtlichen Dienst fanden und damit eine nicht selbstverständliche Verantwortung in unserer Gesellschaft anzunehmen bereit sind. Also, nicht einer Liedzeile, die ich heute Morgen im Radio gehört habe, nachleben: "Ich möchte die Welt verändern und ich kann es nicht, drum lehn ich mich zurück und entspanne mich..."

 

Die Welt verändern?

In manchen, ich würde behaupten in allen, die als Helfer im psychosozialen Bereich unterwegs sind und ihre Sensibilität bewahrt haben, regt sich wohl hin und wieder eine Unzufriedenheit, man könnte auch sagen Sehnsucht, sie wären nicht so häufig mit Krisen oder Krankheiten befasst, die schon existent sind, sondern es hätte die Chance gegeben schon im Vorfeld Änderung zu setzen, frühe fatale Weichenstellungen im Leben der Betroffenen umzudrehen -ganz einfach fundierter zu helfen.

Mit dieser Sehnsucht von uns allen möchte ich mich nun noch etwas befassen.

 

Auf den Gedanken mich in diese schwierigen Niederungen der Primärprophylaxe zu begeben, hat mich ein Beitrag gebracht, den ich anlässlich der Abschlussveranstaltung der Kampagne "Alkohol u. Co." im Funkhaus Dornbirn gehört habe. Dort trugen einige Frauen und Männer Dialektgedichte zur gegebenen Thematik vor. Von den insgesamt sehr beeindruckenden Beiträgen ist mir einer hängen geblieben. Er stammt von Frau Lidwina Boso:

"Durscht hei er

 hotr gset –

 niamat hots verschtanda..."

Wiewohl bei Trinkern und anderen Abhängigen entlastende Projektionen, d.h. Schuldzuweisungen, bekanntlich nicht selten sind, möchten wir nicht einfach Peter Handke folgen, wenn er sagt:          "Die furchtbarsten Menschen: Die es verstehen, in einem Schuldgefühle zu erzeugen für ihre eigenen, eigenverantwortlichen Zustände...". Vielmehr lassen wir uns durch das Gedicht zur Frage führen: Welcher Durst denn heute so oft nicht gestillt wird? Was also - in diesem Fall einer Sucht - jedoch übertragbar auf viele Krisen u. Störungen, was also zugrunde liegt, ist die Frage, die eigentlich beantwortet werden muss, bevor effektive Hilfe möglich wird, mehr noch, wie Vorsorge greifen könnte...

Nehmen wir beispielsweise ein modernes „Handbuch der Abhängigkeitserkrankungen“ zur Hand, finden wir eine Vielzahl an Erklärungsmodellen und eine Unzahl an Rezepten, von Versuchen dem Phänomen Sucht näher zu kommen - es naturwissenschaftlich zu erklären, psychologisch zu verstehen oder soziologisch abzuleiten...

Fraglos wuchs gerade in den letzten Jahrzehnten unser Wissen um Vorgänge im Zusammenhang mit psychosozialen Störungen enorm und sind auch wesentliche Behandlungsfortschritte zu verzeichnen. Und doch finden wir uns - ich denke ich darf auch für Sie sprechen - nicht selten wie in einem Kampf gegen Windmühlen und wünschten besser gegen den Sog der Zeit, gegen  Beziehungselend oder eine im Biologischen verankerte Labilität anzukommen.

 

Soll nun also Prophylaxe das Thema sein, könnten wir

- bei der Genetik anfangen und diejenige, die es mit einer vererbten Anfälligkeit besonders schwer haben, mit besonderen Programmen schützen, oder vielleicht auch einmal ihren Gendefekt reparieren - Zukunftsmusik? Eine Musik, die gerade viel Angst macht, wie gegenwärtige Diskussionen belegen...

- Wir könnten auch über Befunde der Hirnforschung-  hinsichtlich biochemisch aus dem Lot geratener Gleichgewichte - auf die Idee verfallen, die Lösung in der Entwicklung immer spezifischer wirksamer Medikamente oder hinsichtlich Abhängigkeitsrisiko unbedenklicher Drogen zu suchen - wohl auch nicht der alleinige Weg:  Auch hier treffen wir nämlich auf viele Bedenken und Ängste, vor allem, wenn diese Sichtweise monoman oder zu einseitig propagiert bzw. auch praktiziert wird. Der depressive Mensch etwa möchte nicht nur als "Serotoninmangelsyndrom" angesehen u. behandelt werden...

- Um des weiteren der psychologischen Spur zu folgen - könnten wir auf eine Welt hinarbeiten, in der Menschen weniger neurotisiert und schon gar nicht Kinder vernachlässigt oder in vielfältiger Weise misshandelt werden... schwer abschätzbar, wie es sich in unserer Zeit diesbezüglich vergleichsweise verhält, gab es doch immerhin viel Aufklärung und eine massive Enttabuisierung, klingen einem andererseits etwas die Klagen E. RINGELS über den Mangel von Vertrauen u. Liebe in unserer Zeit immer noch im Ohr...

- Fragen müssen wir uns vor allem auch, welche Umfeldfaktoren immer mehr Depressionen und Abhängigkeit generieren bzw. welche Bedürfnisse heute zu kurz kommen, eben welcher Durst nicht gestillt wird?

 

Dazu einige Gedanken:

Wir leben im technischen Zeitalter, welches uns ungeheuere Fortschritte gebracht, unsere Lebensbedingungen drastisch verbessert, viele neue Freiheiten erschlossen hat - dessen Schattenseiten allerdings bislang doch wohl zu einseitig hinsichtlich Umweltverschleiß und Umweltbedrohung, jedoch zuwenig hinsichtlich ganz anderer, nämlich mitweltlicher Veränderungen erkannt werden. Meist nur in Extremsituationen, wie wir sie etwa die letzten Wochen erlebt haben, werden dazu dumpfe und sonst wenig wahrgenommene Ängste aus der Latenz gehoben.

MARTIN HEIDEGGER hat schon in den 50iger Jahren vorausgesehen, dass der vom technischen Fortschritt vereinnahmte Mensch Gefahr läuft, den Boden zu verlieren, dass somit Heimatlosigkeit zur Grundsituation wird; der so ausgerichtete Mensch ferner zu sehr dem rechnenden Denken verfallen ist und daneben eine an sich übergeordnete Leistung, nämlich das Nachdenken über die Sinnhaftigkeit all dessen, vernachlässigt, so gesehen dem Zauberlehrling gleicht, der von den Geistern, die er rief, getrieben wird...

PETER SLOTERDIJK sieht ferner das ethische Dilemma des Modernen auch darin, dass wir „wie Pflanzenesser denken und wie Fleischesser leben“ - Ethik und Machbarkeit bei uns also nie parallel laufen, der moderne Mann mit so gespaltener Zuge spricht, ein Nomade im Schafspelz: eben Endverbraucher...

Mit all dem soll eine selten zugegebene Zwiespältigkeit und vor allem zuwenig reflektierte Grundstimmung unserer Zeit beschrieben werden, ein Unbehagen ausgeliefert zu sein, eine diffuse Angst, welche viele mit Manipulationen unterschiedlichster Art zuzudecken versuchen: Mit Sicherheit eine mögliche Bahnung verschiedenster seelischer Krisen, v.a. auch von Angststörungen und Abhängigkeiten.

Will man VIKTOR FRANKL zumindest ein Stück weit folgen, ist der heute weithin dominierende Konsumismus u.a. auch daraus zu verstehen, also Selbstbetrug, mitunter auch Selbstmanipulation.

Der nach J. P. SARTRE „zur Freiheit verurteilte Mensch“ ginge in seiner Wahl also häufig fehl bzw. scheute sich, im Falle eines fälligen Widerrufs eines früheren Weltentwurfs, jene Angst auszuhalten, die mit Änderungen seines Lebenskurses zwangsläufig verbunden sind.

 

Mancher mag denken, es würde ihm nun etwas zu abstrakt oder philosophisch, ich denke jedoch all dies hat sehr viel mit den Ängsten unserer Zeit und damit auch unserer Arbeit zu tun:

Den Menschen in diesen Zuständen der Angst, wenn er in seinem Leben feststeckt, eine Korrektur seiner bisherigen Lebensweise fällig wäre, er sich Beratern oder Therapeuten anzuvertrauen wagen sollte, den Menschen in diesen kritischen Zuspitzungen beizustehen, ist unsere Herausforderung.

 

Was dabei wirklich hilft, ist bekanntlich schwer zu belegen.

Das Agens der Heilung liegt -  wie P. SLOTERDIJK wohl richtig sieht - in der therapeutischen Situation also solcher - mithin darin, „dass es für die meisten Menschen positive Wirkung zeigt, wenn sie sich nach einer Periode der Selbstvernachlässigung und psychischer Entbehrungen über einen gewissen Zeitraum hinweg mit einer ernst zu nehmenden Person in einer ernsthaften Weise über sich selbst unterhalten können.

Alles andere ist Beiwerk u. Überbau, was zählt ist die dialogische Grundsituation:

In einem Klima wohlwollender Aufmerksamkeit mit einem unbeirrbar konstruktiven Gegenüber eigene Verwirrungen zur Sprache bringen zu können...“

Nun möchte ich damit keineswegs Beratung und Therapie gleichsetzen oder die Sinnhaftigkeit psychotherapeutischer Ausbildungen anzweifeln, die den Helfer ja eben gerade erst befähigen, die Verwirrung des Gegenübers auszuhalten und mit ihm neue Möglichkeiten zu erschließen...

In dieser Charakterisierung

In einem Klima wohlwollender Aufmerksamkeit mit einem unbeirrbar konstruktiven Gegenüber eigene Verwirrungen zur Sprache bringen zu können...

sehe ich den großen Wert des Dienstes an, den Sie, liebe MitarbeiterInnen der TS, Tag für Tag, Nacht für Nacht leisten: da zusein, emphatisch zu sein, oft auch ein Projektionsfeld abzugeben ohne dabei falsch zu reagieren, immer wieder auch Rat zu wissen oder zu vermitteln!

 

 Literaturhinweise:

 

  • Martin Heidegger:   „Gelassenheit“  1985 (1959)
  • Peter Sloterdijk:   „Die Sonne und der Tod“  2001
  • Peter Handke:   „Das Gewicht der Welt“
  • A. Holzhey-Kunz:   „Psychopathologie auf philosophischem Grund: Ludwig Binswanger und Jean-Paul Sartre“  im Schweizer Archiv f. Neurologie und Psychiatrie 3 / 2001
  • Viktor Frankl:   „Ärztliche Seelsorge“

 

 

Anschrift des Verfassers:

Prim. Dr. A. Lingg
Landes- Krankenhaus
A – 6830 Rankweil

 

Links zum Thema:

 

http://www.lkhr.at

 

 

 

 

 

Dr. Albert Lingg, Obmann Telefonseelsorge

Dr. Albert Lingg, Obmann Telefonseelsorge

Peter Sloterdijk, „Die Sonne und der Tod“,  Suhrkamp, Mai 2001 ISBN: 3518412256

Peter Sloterdijk, „Die Sonne und der Tod“, Suhrkamp, Mai 2001 ISBN: 3518412256

Peter Handke „Das Gewicht der Welt“, Suhrkamp, ISBN: 3518370006

Peter Handke „Das Gewicht der Welt“, Suhrkamp, ISBN: 3518370006

Martin Heidegger: „Gelassenheit“ 1985 (1959), Klett-Cotta  März 2003, ISBN: 360891059X

Martin Heidegger: „Gelassenheit“ 1985 (1959), Klett-Cotta März 2003, ISBN: 360891059X