Impulsletter 2 "Mir das Leben nehmen"

Nach meinem Dienst in der Telefonseelsorge, klingt aus dem letzten Gespräch noch ein Thema nach. Ich erinnere mich an einen Text von Jacqueline Keune der mir aus der Seele spricht ....

Mir das Leben nehmen


Ich bin daran, schon einige Zeit, mir das Leben zu nehmen. Es ist etwas vom Schwierigsten, das ich bisher gemacht habe. Wie nehme ich mir das Leben? So bis vor zwei, drei Jahren ging alles, wie es immer irgendwie ging. Ich hatte Kraft, ich hatte Ideen, ich mochte um fünf in der Früh aufstehen und um Mitternacht ins Bett gehen, zuweilen drei Dinge gleichzeitig tun und musste mir nicht dauernd Gedanken machen. Dann fing es an, ich kann nicht genau sagen, da oder dann hat es angefangen, es hat einfach angefangen, oder vielleicht müsst ich besser sagen: sie.

Ich bin in der Lebensmitte, genauer in der statistischen Lebensmitte, denn wenn ich morgen sterbe, dann bin ich vor zwanzig Jahren in der Mitte des Lebens gewesen, und hätte nichts davon bemerkt. In der Mitte des Lebens, die eine Hälfte liegt hinter mir, mit all dem Frühaufstehen und Funktionieren, und die andere liegt vor mir, wie ein wildes Stück Erde, das es zu bewohnen und zu bestellen gilt. In der ersten Lebenshälfte musste ich mir das Leben nicht extra nehmen, es war meist einfach da und hat genügt und auf seine Weise gepasst. Das eine ist auf das andere gefolgt, wie fast von selbst, Prinzipien waren da, wenn auch nicht ausgesprochen und bis ins Letzte durchdacht, der Körper war da und das Geschlecht, ohne dass ich sie gross bemerkt hätte, und auch du warst da, und dann du und du, und so ging es bis vor zwei, drei Jahren, das Leben.

Jetzt bin ich in der Lebensmitte und erfahre, dass es nicht mehr geht, wie es bisher gegangen ist, dass nicht mehr hält, was bisher gehalten hat, dass nicht mehr sicher ist, was bisher für mich sicher war, vor allem aber, dass das Leben nicht mehr einfach da ist, sondern dass ich es mir nehmen muss, mein Leben, und dass ich nicht fragen will, ob ich es mir nehmen darf, auch wenn mich das die erste Lebenshälfte gelehrt hat.

Und nichts will ich mehr, als dass es mir passt, mein Leben, fast wie eine zweite Haut soll es sitzen, mir nicht länger drei Nummern zu weit sein oder mich überall einengen, sondern richtig passen, wie ein Kleid nur für mich gemacht. Und es soll mir keiner kommen und sagen, dass es mir nicht stünde, dass es mich alt oder jung oder sonst wie mache, und dass ihm das alte viel besser gefallen hätte, oder dass es vielleicht nur eine Laune sei. Habe ich das in der ersten Lebenshälfte noch ab und zu hören können, jetzt nicht mehr, denn der Bruch ist immer noch würdiger als die Anbiederung. Und kein Körper soll länger unbeachtet da sein, und kein Geschlecht einen Tag länger nicht wahrgenommen.

Das Leben will ich mir nehmen, auf dass es sichtbar und spürbar wäre: Schau mal, die hat sich das Leben genommen! Und ich selber möchte auch sehen und spüren: Die dort hat es sich auch genommen, und der dort drüben auch, und auch du, meine Freundin. Und mag ich zurzeit auch kaum mehr zwei Sachen gleichzeitig machen, so sprüht es doch, mein inneres Leben, grad so, als ob ich einen Batzen Teig ins heisse Fett geworfen hätte.

Jacqueline Keune

In: Jacqueline Keune, Als ob das Eine das Ganze wär. db-Verlag,Luzern 2001.


Nehmen Sie sich Ihr Leben und bleiben Sie aufmerksam, Ihr I. M. Puls